Was ist Ganzheit?
Dieser Text stammt aus meinem Buch Eins Werden, Eins sein
Das Wort ganzheitlich wird viel und gerne benutzt. Es erweckt den Eindruck, ganz und heil zu sein, doch bemerke ich immer wieder, dass viele Aspekte von Ganzheit gar nicht mitgedacht werden. Dabei sollte der Begriff ganzheitlich wirklich alles einbeziehen. Wer also Ganzheit verwirklicht hat, der ist eins mit dem Tao, erleuchtet und hat alle Teile in sich vereinigt, integriert und kennen gelernt. Dies gilt für alle Ebenen von Körper, Geist und Seele. Wenn man sich dies vor Augen hält, wird einem sehr schnell klar, was Ganzheit in letzter Konsequenz bedeutet. Das ist auch ein ganz schön hoher Anspruch, oder?Yin und Yang (zu Yin und Yang erscheint demnächst ein Artikel) müssen gleichberechtigt mit allem, was sie zu bieten haben, anerkannt und auch gelebt werden. Das bedeutet, jeden ungeliebten Anteil in mir, jede Perversität, jede Abhängigkeit, jede Unkontrolliertheit, jede Antipathie und alles, was mir an mir und an der Welt nicht gefällt, anzunehmen und zu integrieren. Andernfalls bleibt Ganzheit ein bloßes Lippenbekenntnis. Doch was heißt das für uns und unsere Entwicklung? Ich möchte dazu eine kleine Übung vorstellen, die wir häufig in unseren Kursen machen, um das Prinzip zu verdeutlichen.
Übung: Der ganzheitliche Gefühlskreis
Sammeln Sie alle Gefühle (z. B. Angst, Wut, Liebe), Gefühlszustände (z. B. Langeweile, Depression) und alle anderen geistigen Eigenschaften, die Ihnen einfallen (z. B. Hoffnung, gütiger Mensch sein, ein Mistkerl sein, friedlich sein, sich wie im Krieg fühlen). Wichtig ist, dass Sie wirklich alles aufschreiben, die „negativen“ wie die „positiven“ Aspekte. Wenn Ihnen zu einer Kategorie nur wenig einfällt, strengen Sie sich ein wenig an, denn es ist für die Übung wichtig, eine möglichst große Bandbreite an Gefühlen und Eigenschaften zu finden. Sie sollten jetzt mindestens 12 bis 15 Aspekte auf Ihrem Blatt zu stehen haben. Malen Sie nun einen großen Kreis auf und unterteilen ihn in viele kleine Abschnitte wie die Stücke eines riesigen Kuchens. Schreiben Sie jetzt in jedes „Tortenstück“ einen der gesammelten Aspekte. Wenn Sie wollen, können Sie im oberen Halbkreis die für Sie positiven Eigenschaften und im unteren die für Sie negativen Eigenschaften unterbringen. Zum Schluss könnte Ihr Kreis folgendermaßen aussehen:
Ich habe hier nur eine kleine Auswahl von Gefühlen und Eigenschaften zusammengestellt. Ich denke, Sie werden deutlich mehr finden. Sehen Sie sich Ihren Kreis gut an. Sie erhalten so vielleicht noch keinen vollständigen, wohl aber einen guten Überblick über Ihre ganz persönliche Ganzheit. Die meisten Menschen haben an dieser Stelle bereits ein kleines Problem. Sie können sich vielleicht mit dem oberen Halbkreis ganz gut identifizieren, aber im unteren Teil finden sich bestimmt viele Aspekte, von denen sie sagen: „So bin ich nicht! Ich bin kein Mistkerl. Ich hasse nicht. Ich will keine Angst haben.“ Vielleicht erinnern Sie sich aber auch an Yin und Yang und Ihnen ist – zumindest theoretisch – schon klar, dass wirklich alle Teile zu Ihnen gehören.
Den Schatten integrieren
Wir erleben in unseren Gruppen auch sehr oft, dass vielen Leuten dieser Umstand rein rational durchaus einleuchtet. Wir wissen und erleben, dass in jedem von uns jedes „negative“ Gefühl steckt, das es auf der Welt gibt. Viele von uns erlauben sich allerdings nicht, diese Anteile auch nur zu spüren, geschweige denn sie zu erleben oder in den Alltag zu integrieren. Ich muss jedoch dazu bereit sein, Hass, Wut oder Angst wirklich vollends in meiner Seele zu spüren. Kann ich meinem tiefsten Hass wirklich ins Gesicht blicken und zu ihm sagen: „Ja, du gehörst dazu, ich liebe dich genauso wie die Liebe. Ich weiß, durch dich kann ich töten und zerstören, aber du gehörst zu mir.“? Wenn ich das ernsthaft versuche, bekommt der Begriff Ganzheit eine spirituelle Tiefe, die seiner würdig ist.
Ich kann diesen Kreis übrigens auf viele andere Bereiche übertragen: Personen des öffentlichen Lebens (Gandhi, Hitler, Bush, Papst, Mutter Teresa, Franz Josef Strauß, Joschka Fischer), Religionen (Christentum, Islam, Buddhismus, Zeugen Jehovas, Sekten), Körperteile (Kopf, Rücken, Bauch, Po, Geschlechtsteile), Medizinsysteme (Schulmedizin, traditionelle chinesische Medizin, Homöopathie, Ayurveda, Hildegard-Medizin) und vieles andere. Das Prinzip bleibt das gleiche. Auch hier werden wir zum Beispiel mit Hitler unsere Schwierigkeiten haben, während wir Gandhi oder Mutter Teresa bewundernswert und „positiv“ finden.
Die Macht des nicht integrierten Schattens
Was aber passiert, wenn wir Teile von uns negieren, wie wir es so häufig tun? Schließlich sind Yin und Yang aufeinander angewiesen, um existieren zu können. Denn wenn wir einen Aspekt unserer Persönlichkeit ausgrenzen, schwächen wir auch sein Gegenteil. Wenn ich meinen Hass nicht spüre, werde ich auch immer mehr Schwierigkeiten haben, die Liebe zu spüren, denn Yin (Hass) und Yang (Liebe) sind eben stark miteinander verknüpft. Mit dem Verdrängen von einem Teil versuche ich im Prinzip, halb zu sein, was natürlich auf Dauer nicht funktioniert, weil jeder Organismus danach strebt, ganz zu werden. Aber das Unterdrückte, Verdrängte und nicht Gesehene drängt unweigerlich an die Oberfläche, und es kommt mir vor, als würde sich dieser Vorgang in den letzten Jahren und Jahrzehnten verstärken. Dies sehe ich sowohl bei meinen Klienten als auch in unserer Gesellschaft.
Der Burn-Out ist hier ein gutes Beispiel. In der Arbeitswelt nehmen Termindruck und Arbeitstempo beständig zu. Es herrscht häufig immer noch die Illusion vor (interessanterweise sowohl bei Arbeitnehmern wie Arbeitgebern), dass der Mensch unbegrenzte Energie habe und wie ein perpetuum mobile funktionieren müsse. Aber Geist und Körper reagieren dann vollkommen anders. Durch das überwältigende Erschöpfungsgefühl und die oft auftretenden Depressionen wird der Betroffene zur Ruhe gezwungen. Obwohl das für denjenigen natürlich sehr belastend ist, holt sich der Organismus dadurch genau das, was er braucht: Ruhe. Und genau dieser Aspekt ist durch die bisherige Lebensweise unterdrückt worden. Das starke Ansteigen der psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren zeigt auch den gesellschaftlichen Aspekt der Thematik und erinnert uns an die dritte Regel: Das Yin strebt zum Yang und das Yang zum Yin. Das bedeutet, dass Verdrängtes an die Oberfläche kommen muss – das ist eine unvermeidliche Tatsache. Das Unterdrücken von Unerwünschtem aber gehört zu unserer Kultur. Es ist übrigens nicht nur in den westlichen, sondern auch in den östlichen Zivilisationen verbreitet. Unser Zusammenleben basiert auf dem Funktionieren und Unterdrücken von allem, was nicht in unser Weltbild passt. Allerdings leben wir dadurch gewissermaßen in einer ständigen Illusion und nehmen nicht mehr wahr, wie es uns wirklich geht und was wirklich wichtig ist.
Der Schatten und die Krankheiten
Das Unterdrückte, (meist das Yin) in unserem Körper, unserem Geist und unserer Gesellschaft kann sich deshalb oft nur noch auf krankhafte Weise(Burn-Out, Panik-Attacken, Depressionen, Allergien, Asthma, Krebs) bemerkbar machen. Nur so werden wir darauf noch aufmerksam und setzen uns damit auseinander. Meist reagieren wir auf die übliche Weise – mit erneuten Versuchen der Unterdrückung. Krankheiten werden wegoperiert, mit Medikamenten unterdrückt oder mit starken Schmerzmitteln so weit bekämpft, dass man sie nicht mehr spürt. Bei psychischen Krankheiten wird ähnlich verfahren: Man bekommt Psychopharmaka. Viele, vor allem schulmedizinisch ausgerichtete Psychotherapien versuchen, Symptome lediglich loszuwerden, damit der Mensch wieder funktioniert und für das System zur Verfügung steht. Dieses Vorgehen rächt sich, wie wir immer wieder feststellen. Es gibt durchaus Patienten, die mit Symptomunterdrückung jder Art gut zurecht kommen. In meiner Praxis und anhand der Berichte meiner Kursteilnehmer sehe ich Tag für Tag, dass schulmedizinische Medikamente und Therapiekonzepte immer weniger funktionieren. Es scheint so, als wüdre die Wirksamkeit bei einigen Patienten nachlassen. Vor allem bei Psychopharmaka stelle ich immer wieder fest, dass die Krankheitsbilder gegen medikamentöse Behandlung oft resistent sind und trotz häufiger Umstellung auf andere Mittel keine Besserung eintritt. Hier wäre die Umstellung auf eine wirklich ganzheitliche Therapie von Nöten, aber diesen Weg muss der Kliente oft alleine gehen und sich auf die Suche nach seinem Therapieweg machen.
Um das Prinzip der Ganzheit und der Unterdrückung von Yin-Anteilen im psychotherapeutischen Bereich zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen nun ein Beispiel aus einem meiner Seminare für Familienstellen geben. Was Familienstellen ist, werde ich später ausführlich erklären. An dieser Stelle sei zur besseren Verständlichkeit nur gesagt: Beim Familienstellen versucht man mithilfe sogenannter Stellvertreter, die zum Beispiel Mutter, Vater oder Geschwister darstellen, Lösungen zu erarbeiten, indem sich die Stellvertreter im Raum bewegen und durch den Therapeuten geführt miteinander sprechen. Dabei ist das Faszinierende und Unerklärliche, dass sich diese Stellvertreter in die jeweiligen Personen einfühlen können und sich oft bis hin zu genauen Redewendungen wie die dargestellten Personen verhalten, obwohl sie diese noch nie gesehen haben. Stellvertreter können dabei nicht nur reale Personen, sondern auch Persönlichkeitsanteile von Klienten darstellen, wie im folgenden Fall zu sehen ist.
Der Nachfolgebeitrag mit dem Beispiel aus der Praxis wird im Februar 2020 veröffentlicht werden, wenn diese Zeilen verlinkt sind, dann kommen sie hier direkt zum Beitrag.
Liebe Grüße
Klaus
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